Beiträge zur Geschichte der Steinkreuze


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Mittelalterliche Gedenksteine im Ratzeburgischen
Von Fr. Buddin zu Schönberg i. Mecklb.,
mit Zeichnungen von Ferd. Lemche daselbst

   In Nummer 4 dieser Zeitschrift steht in der Sammler-Rubrik ein kurzer Bericht über einen "alten Marterstein" bei Sülsdorf in Mecklenburg-Strelitz. Wahrscheinlich hat der Verfasser, ein Nienstädter Herr, dies alte ehrwürdige Wahrzeichen mittelalterlicher Kunst im Sülsdorfer Krug "entdeckt"; denn dort hängt eine vorzügliche Photographie des Steines, mit der zur Bequemlichkeit für den Beschauer ins Deutsche übersetzten Inschrift darunter. Die liebenswürdige Wirt, unser alter prächtige Wienk, erzählt gern die Sage dazu, zeigt auch wohl das nur wenige Minuten vom Dorfe entfernte Denkmal den Ferienbummlern, die allsommerlich unsere schöne Heimat durchstreifen. Wenn ein Fachmann darunter uns einen belehrenden Vortrag über die Gedenksteine unserer Gegend hält, so nehmen wir solches gern und dankbar an. Wir freuen uns auch, wenn sonst jemand ein offenes Ohr für die "Vertellens" unserer Volksüberlieferung zeigt oder die wenigen Stücke aus der Zeit der Altvorderen mit Interesse betrachtet. Aber wenn irgend ein Fremdling im Fluge dürftige Notizen zusammenrafft und eiligst eine Arbeit für "Niedersachsen" davon zusammenstellt, also für eine Zeitschrift, die eine gründliche Erforschung der Heimat sich zur Aufgabe gemacht hat, vielleicht sich auch noch geschwollen fühlt, uns weltverlorenen Niedersachsen hier ein Licht über unseren Altertumsschatz aufgesteckt zu haben, dann ärgert uns das. Obriger Herr nahm sich ja nicht einmal die Mühe, den Namen unseres Ländchens richtig zu erfragen. Wir sollen im "Fürstentum Schönberg" hausen; und doch lernen im großen Deutschen Reich die Schulbuben, daß zum Großherzogtum Mecklenburg-Strelitz das Fürstentum Ratzeburg gehört. Nämlich seit 1701, nachdem es ein halbes Jahrhundert früher, im Westfälischen Frieden, säkularisiert und an Mecklenburg-Schwerin gekommen, und noch wiederum ein halbes Jahrtausend vorher, Anno 1154, vom Herzog Heinrich dem Löwen als Bistum Ratzeburg gegründet worden war. Einzige Stadt im Lande ist allerdings Schönberg: von der lauenburgischen Stadt Ratzeburg gehört uns jetzt nur der schöne Dom mit dem Palmberg. Hier in Ratzeburg haben ehedem die Bischöfe des Bistums residiert. Sie hielten sich zwar oft und gern auch in Schönberg auf, von 1300 an sogar ausschließlich, doch ist es ihnen nie eingefallen, ihr Land nach diesem Orte zu benennen. Als Luthers Lehre um 1590 herum in Mecklenburg zum Siege kam, wurde auch das Ratzeburger Domkapitel lutherisch und wählte den Herzog Christoph von Mecklenburg zum Bischof. So kam das Land an Mecklenburg. Erst im Westfälischen Frieden erhielt es den Titel Fürstentum.

Abb.1 Das Sülsdorfer Steinkreuz

Abb.2 Das Herrnburger Kreuz

Abb.3 Das Schönberger Kreuz

Abb.4 Das Steinkreuz der Wilsnack Wallfahrer vor dem Burgtore in Lübeck

Abb.5 Das Ansveruskreuz zu Ratzeburg


   Das Steinkreuz bei Sülsdorf (Abb.1) ist in dieser Gegend nicht das einzige seiner Art. Auch im Holsteinischen und Mecklenburgischen sollen sich diese Denkmäler nicht selten finden. Die mir bekannten sind aus schwedischem Kalkstein hergestellt und über 2m hoch. In der Inschrift wird immer eine Jahreszahl um 1400 herum angegeben, und wenn nicht, dann deuten andere Merkmale auf diese Herstellungszeit hin. Auch zeigen alle das Bild des gekreuzigten Heilandes, mit der auch durch die Inschrift kundgegebenen Absicht, die sündenvergebende Kraft des Opfertodes Christi für die schwere Schuld eines Verbrechens herabzuerflehen. Die Inschriften sind meistens sehr schwer zu entziffern. Auch über der Schrift des Sülsdorfer Steines haben kundige Leute lange gesonnen. Da hat vor einigen Jahren der genannte Herr Wienk, ein eifriger Freund volkskundlicher Überlieferung, den Stein sorgfältig reinigen und, nachdem die Inschrift behutsam mit Kohle nachgezogen worden, mittelst eines scharfen Apparates photographieren lassen. So konnte die Schrift endlich genau gelesen werden. Sie lautet:

 Orate, deum p
 marquardo, bor.
 tzowen qui o
 ano. dni. M. CCC.

XCVIII ipo. die cle
---
me
   Im Zusammenhang: Orate deum pro marquardo bortzowen, qui obiit anno domini MCCCXCVIII ipso die clementis.
   Die (übrigens in dem oben genannten Bericht ziemlich einwandfrei wiedergegebene Sage von der Martensmühle hat mit dem Stein kaum einen Zusammenhang. Nach der Selmsdorfer Kirchenchronik ist die Martensmühle erst 1590 "unter Dach genommen", d.h. also doch im Bau vollendet, während der Stein die Jahreszahl 1398 trägt. Merkwürdig ist, daß bei den verschiedenen Varianten der Sage außer geschmolzenem Blei oder glühendem Fett, das dem unglücklichen Sohn von den Eltern in die Ohren (nicht in den Mund) gegossen wurde, auch geschmolzenes Wachs als Mordstoff genannt wird; nachweislich ist in der Gegend im Mittelalter eifrigst Bienenzucht getrieben worden, im Gegensatz zu jetzt, wo man dort auffallend wenig Honig erntet. Daß der Stein "Marterstein" genannt werde, ist durchaus irrig, man heißt ihn Stein "bei der Martensmäehl" oder einfacher Sülsdorfer Kreuz. Alte Leute wollen behaupten, der Stein sähe unter der Erde genauso aus wie oben. Die Teschower und Sülsdorfer hätten früher die Pflicht gehabt, alljährlich abwechselnd den Stein zu wenden, also das unterste zu oberst zu kehren, für welche schwere Arbeit sie durch ein selbstbestimmtes Quantum "Käem und Präem" belohnt worden wären.

   Ein dem Sülsdorfer Stein ganz ähnlicher ist der zu Herrnburg (Abb.2), einem Ratzeburgischen Dorf unweit Lübecks an der Friedrich-Franz-Bahn. Man findet ihn etwa 30 Minuten südlich von Herrnburg auf einsamer Heide. Auch dieser Stein hat oben den hufeisenförmigen Abschluß, doch ist dieser noch mit sieben kreisrunden Knäufen verziert. Die Inschrift lautet:
   Anno domini 1466 die XVII. Augusti obiit hic Hinrik Pomert dum peregre vadit Reminiscere obiter relictorum. suique suorum Harc dicavit hoc filius decanus hamburgensis. Memores estote suarum precor animarum. (Im Jahre 1466 am 17. August starb hier Hinrik Pomert während einer Reise. Vorübergehende gedenkt seiner und seiner Hinterbliebenen. Ihm errichtete dies der Sohn, Dekan in Hamburg. Seid eingedenk, ich bitte, ihrer Seelen.) Ein Hamburger Dekan Pomert soll existiert haben (bis 1466), doch ist von ihm weiter nichts bekannt. Dunkel ist auch die Herkunft des Wappens: eine vom Schwert durchstochene heraldische Doppellilie. Links vom Kruzifix kniet der Vater, kenntlich an der kleinen Reisetasche; rechts sieht man den Sohn in seiner Dekanstracht.
   Eine Sage über diesen Stein erzählt sich das Volk nicht.

   Als drittes und letztes der mittelalterlichen Gedenksteine dieser Art besitzt unser Fürstentum das sogenannte Schönberger Kreuz. (Abb.3) Bis in die 40er Jahre des vorigen Jahrhunderts stand es an seinem ursprünglichen Ort auf der Schönberger Feldmark. Dann war es lange Zeit verschwunden, bis man es zufällig als Brückensteg wieder entdeckte. Durch Vermittlung altertumsfreundlicher Männer hat es seinen Platz in der Nähe der Kirche erhalten. Es unterscheidet sich von den beiden anderen dadurch, daß es schon im äußeren Umriß die Form des Kreuzes zeigt. Sonst haben wir auch hier die Figur des Gekreuzigten und der darunter knieenden Person mit aufwärts flatterndem Spruchband, aber nicht in erhabener Arbeit, wie beim Sülsdorfer, sondern eingemeißelt. Auf dem Spruchband steht ebenfalls: misere mei deus, in gotischen Minuskeln. Die eigentliche Inschrift liest man auf der Rückseite. Sie ist so verwittert, daß sie nur nach schwerer Mühe und mittelst eines umständlichen Verfahrens entziffert werden konnte. Auffälligerweise ist sie deutsch und lautet:

Int . iar . m. c c c c. x. -- --
Do .wart .hir .slagen
herme .Karlouwe
dit . kruse . sete hir
sin sone vikke
Karlouwe.

   Über der Inschrift ist ein Schild mit dem Wappen der Familie von Karlow angebracht (steigender Bär mit Halsband).
   Die Sippe derer von Karlowe war im Ratzeburgischen begütert, auch sind noch Kaufurkunden mit dem Siegel des Geschlechts (springender Bär im Wappen) vorhanden. Sie lebten mit den Lübecker Kaufleuten in ewiger Fehde, und besonders Hermann muß sich als arger Strauchritter unrühmlichst ausgezeichnet haben, denn eine alte Lübecker Handschrift klagt über ihn: "Desulve Herman vnde sine Knechte schinden den copman op der straten, dar vns vaken vnde vele claghe van quemen." Bei einer derartigen Balgerei auf der Landstraße wird er 1410 seinen Tod gefunden haben, worauf ihm sein zarter Sohn Vikke durch Stiftung eines Denksteins die Höllenpein für seine Schandtaten zu mildern suchte.

   Über die östliche Grenze des Fürstentums hinaus, im Mecklenburgischen, treffen wir an der Chausee von Dassow nach Grevismühlen ein Steinkreuz nocht weit vom Dorfe Tramm. Der Kopf des Steines ist abgeschlagen und die Inschrift so verwittert, daß kaum eine Entzifferung möglich sein wird. Immerhin sind neben einem Anno Dni und dem wahrscheinlichen M drei C deutlich erkennbar, also wäre auch dier die oben angenommene Zeitbestimmung ziemlich sicher.

   Geht man über die Westgrenze des Fürstentums ins Lübecksche hinein so trifft man kurz vor dem Burgtore der Stadt ein Steinkreuz (Abb.4) von hochinteressanter Bedeutung. In alter Zeit ging die Heerstraße von Lübeck, die nach Osten führte, zum Burgtore hinaus und gabelte sich alsbald, nähmlich links zum Wege nach Wismar und rechts über Brandenbaum durchs Fürstentum Ratzeburg hindurch zum Wege nach Wilsnack in der Mark Brandenburg. Wilsnack, das berühmte, war ein Wallfahrtsort des Mittelalters, wegen des dort gezeigten heiligen Blutes. Ungefähr 2 Meilen von Wittenberge gelegen, ist der Ort ursprünglich ein kleines Dörflein gewesen. Da brennt der Feind im Jahre 1383 die Kirche mit fast allen Häusern nieder. Tränenden Auges betritt nach der Feuersbrunst der alte ehrwürdige Prediger die Trümmer seines Heiligtums, und wie er nach den Spuren der heiligen Geräte Umschau hielt, sieht er mit Staunen, daß der Altar fast unversehrt geblieben. Bald ist die Hostienschachtel gefunden, mit heiliger Scheu geöffnet und siehe da! an den drei Hostien kleben die Blutstropfen des Erlösers. Und als das Wunder bekannt geworden, drängen sich alsbald die Scharen der Pilger herzu. Schöner und größer erblüht der Ort aus der Asche seiner Trümmer. Aus aller Herren Ländern strömendie Gläubigen herbei, gewaltig wird der Reichtum der Stadt, bis nach fast zwei Jahrhunderten die Reformation dem Treiben ein Ende macht, indem der evangelische Prediger Ellsfeld anno 1552 die Reliquie verbrennt. Tausende und Abertausende mögen die alte Heerstraße von Lübeck aus gepilgert sein, und ihnen allen war der Stein beim Burgtore ein getreuer Wegweister. Denn zum Wegweiser war er bestimmt. Seine Errichtung geschah im Jahre 1436 auf testamentarische Verfügung des Johann von der Heyde in Lübeck: "Item so will ick, dat man skal setten en Cruce van X Marken uppe de Wegeschydinge alse gheyt to der Wilsnacke, dar sich de Wysmarsche Wech anhevet." (Bruns, "Lübecks Handelsstraßen am Ende des Mittelalters"). Und die Inschrift lautet (in erhabenen Minuskeln):

biddet got vor
den ghewer
des weges na
der wilsnakke

   Im linken Arm des Kreuzes stecken drei Kugeln. Darüber erzählt Deeke in seinen Lübeckschen Geschichten und Sagen:
   Um 1479 sind sind zwei Kaufgesellen, die gute Freunde waren, mit ihren Wagen aus der Mark nach Lübeck zurückgekehrt. Als sie nun auf der Straße nach der Stadt sind, will der eine, Hans Klever, der ein guter Schütz gewesen, die Röhre abschießen, weil man nicht mit geladener Wehre in die Stadt kommen dürfen. Wie er sich aber nicht vorsieht, als gerade sein Gesell aus dem Schlafe aufgefahren, schießt er den tot. Die Herren des Gerichts setzen ihn danach in den Absalomsturm am Hüxtertor; und des Erschossenen Freunde lassen an der Stelle, wo das Unglück geschehn, ein steinernes Kreuz aufrichten. Das hat der Gefangene von dem Turm aus sehen können und häufig Tränen vergossen; und sich erboten, einen wunderbaren Schuß zu tun, seine Unschuld zu beweisen, dafern man ihn seiner Banden entfreien wollte. - Endlich ist es ihm mit Zulassung eines Rats bewilligt: da hat er mit seinem Rohr beim Hüxtertor dann nach dem linken Arm des Kreuzes geziehlt, und dreimal hineingeschossen, dergestalt, daß die Kugeln ein Kleverblatt (Kleeblatt) machten; zum Zeichen, daß er's getan. -
   Soweit die Sage. Man sieht, daß sie geeignet gewesen wäre, über die Entstehungsgeschichte des Steins zu täuschen, wenn nicht eine einwandfreie geschichtliche Urkunde vorläge.

   Ein ähnliches Spiel mag die Sage treiben mit dem Ansveruskreuz bei Ratzeburg. (Abb.5) Nach alter Tradition, die bis 1520 zurückverfolgt werden kann, soll das Kreuz zum Andenken an den Mönch Ansverus errichtet worden sein, der an der Stelle im Jahre 1066 von den aufständischen Wenden erschlagen ward. Das Denkmal zeigt in gering vertieften Linien ein Kruzifix und dabei die übliche knieende Figur. Die Inschrift lautet zu Häupten der Christusfigur: J. N. R. J., und im Spruchbande: or d'n p. me, also im Zusammenhang: Jesu Nazarene, rex Judaeorum, ora deum pro me. Entgegen der Herstellungsart unserer anderen Steinkreuze verrät die Darstellung eine Künstlerhand. Herr Professor Hellwig in Ratzeburg, ein eifriger Forscher auf diesem Gebiet, schreibt, daß die Zeichnung nach dem einstimmigen Urteile der Sachverständigen aus dem 15. Jahrhundert stamme, daß die Zeichnung der Christusfigur mit den dürren Armen ganz der Darstellungsweise des Straßburger Künstlers Martin Schongauer entspräche und daß die knieende Figur die Tracht eines Domherrn aus dem 15. Jahrhundert zeige. Danach wäre die Herstellungszeit auch hier dieselbe wie bei den anderen Kreuzen. Ob aber ein Zusammenhang mit der Ansveruslegende vorhanden ist? Professor Hellwig läßt die Frage offen, da ihm eine Handschrift aus dem 14. Jahrhundert, also älter als der Stein, bekannt ist, die die Ansveruslegende berichtet, und so muß man warten, bis kundige Forscher die Sache weiter verfolgt haben. Was über die Gedenksteine im Ratzeburgischen zu sagen wäre, das dürfte im Vorstehenden ziemlich erschöpft sein. Zu wünschen bleibt, daß auch in anderen Gegenden nach ähnlichen Zeugen mittelalterlicher Kunst und Kultur Umschau gehalten und daß das Ergebnis von kundiger Hand an dieser Stelle veröffentlicht werde.
(Niedersachsen, 11.Jg., Nr.8, 15.1.1906, S.146-148)

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