Volksaberglaube & Brauchtum


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Das Geheimnis der Wetzrillen und Näpfchen
von Karl Walter Eitelmann

Im Wald entdeckt ein geübtes Auge auf den Böden und an den Wänden im Innern von manchen Sandsteinhöhlen, Sandsteinhalbhöhlen, auf Sandsteinblöcken innerhalb Abris und auf gewachsenen erdverbundenen Sandsteinfelsplatten im Berggelände zahlreiche Spuren, die von wiederholtem Reiben oder Bohren an gleicher Stelle mit einem harten Gegenstand stammen. Wir finden diese rillen- und näpfchenförmigen Vertiefungen fast ausschließlich in reinem Sandstein.

Im Wald finden wir sie an Sandsteinfelswänden, Sandsteinblöcken und Sandsteinplatten. Sie sollen sehr alt sein und aus prähistorischer Zeit stammen.

In Wohngebieten sind sie an sakralen Bauten, an Sandsteinmauern von Kathedralen, Kirchen, Klöstern, Kapellen und Klausen, sowie an Kreuzen, Wegekreuzen, Bildstöcken, Wegemalen für Prozessionen, Sühnekreuzen und an Grabsteinen von Heiligen zu sehen.

In Wohngebieten finden wir sie an profanen Bauten wie Stadttoren, Hoftoren, Burgtoren und Friedhofstoren und an Stadtmauern, an Rathäusern, Brücken, Brunnen, Postmeilensäulen, Gerichtssäulen, Prangern und seltener an Grenzsteinen.

Diese langgezogenen, schmalen und breiten, kürzeren und längeren, flachen und tieferen, bootskielförmigen Einschürfungen, Wetzfurchen und Wetzkerben werden auch Wetzrillen, Ritzrillen, Schleifrillen und Schürfrillen genannt.

Manchmal findet man auch gemeinsam mit Wetzrillen kleinere oder größere, flache oder tiefere, meist kreisförmige Vertiefungen und Einbohrungen, die man auch Näpfchen, Schalen oder Mulden nennt.

Es sind Spuren eines in Vergessenheit geratenen oder, weil es heidnischer Kult, Aberglaube oder Zauberglaube war, eines bewußt verschwiegenen Brauchtums unserer Vorfahren. Diese Erscheinungen führen uns wohl zurück in die prähistorische Zeit und in die Kelten-, Römer- und Germanenzeit bis ins Mittelalter. Es dürfte sich hier wohl um einen alten heidnischen Brauch handeln, der sich über die Christianisierung hinübergerettet hat und bis ins Mittelalter in Deutschland und weit darüber hinaus weiter gepflegt worden ist.

Vermutlich wurde dieses heidnische und abergläubige Brauchtum von der Kirche bekämpft, und wenn es nicht christianisiert werden konnte, verdeckt und schließlich ganz ausgerottet. Die Spuren wurden teilweise beseitigt, die Rillen und Näpfchen zugeschmiert oder mit Mörtel verputzt. An einigen Kirchen wurde aber auch zur Erinnerung ein Rillen- und Näpfchenstein vom Verputz freigehalten, und ist heute noch sichtbar.

Bis jetzt wurden für das Wetzen, das tausendfach Spuren hinter-lassen hat und zweifellos eine große zeitliche und regionale Funktionsvielfalt besaß, keinerlei erklärende Urkunden oder schriftliche Zeugnisse gefunden, so daß der menschlichen Phantasie bei Deutungsversuchen keine Grenzen gesetzt sind. Bei der nachfolgenden Auflistung der Möglichkeiten zur Entstehung der Rillen und Näpfchen wurde erschienene Literatur mit Deutungsversuchen, soweit der Zugang möglich war, berücksichtigt.

Möglichkeiten zur Entstehung der Rillen und Näpfe.

1. Prähistorische Wetzrillen

  1. Schleifbänke
    Entstanden beim Schleifen von Steinbeilen, Steinäxten, Steinwerkzeugen und Waffen in der Jungsteinzeit.

  2. Kulthandlungen
    Ritus an vorzeitlichen Kultplätzen durch Ritzungen mit religiös-symbolischem Charakter.

  3. Himmelsbeobachtung
    Anordnungen von Steinreihen mit Rillen, Näpfchen und Mulden als Visieranlagen und Richtungsweiser für astronomische Linien zur Ortung des Sonnenstandes auf ihrer scheinbaren Bahn, der Tag- und Nachtgleiche, der Sonnenwendpunkte, der Mondphasen und Jahreszeiten.

  4. Zahlenwelt
    Vermutlich wurden Ordnungsprinzipien entwickelt und Maßstäbe gesetzt und im Bereich der Zahlenwelt Zählen, Rechnen und Vorausberechnungen ausgearbeitet. Mutmaßlich hat man mit Mengen gerechnet. Der Mond spielte eine wesentliche Rolle im Leben der prähistorischen Menschen, indem er ihnen die Möglichkeit gab, sich in der Zeit zurechtzufinden. Sie beobachteten die drei sichtbaren Mondphasen, die durch drei sich schneidende Rillen oder durch eine Gruppe von drei parallelen Linien symbolisiert wurden. Es entstand die Menge drei. Mutmaßlich hat man die Zahl drei auch den drei Elementen zugeordnet: der Erde, dem Wasser und dem Feuer oder auch der Erde, der Sonne und dem Mond oder aber der Geburt, dem Leben und dem Tod.

Die gewonnenen Erkenntnisse wurden in Form von Rillengruppen auf Steinplatten festgehalten. Mit Wetzrillen bildete man auch Dreiecke, Vierecke, Fünfecke, Mühlspielmuster und Netzmuster.

Manchmal ähneln die Rillengruppierungen auch Fischgräten, mit Richtungsänderungen der Gräten. Auf der einen Seite der Hauptlinie in der Mitte stehen die Gräten nach oben, auf der anderen nach unten. Bei kammähnlichen Gebilden könnte die Anzahl der Zahnrillen eine Menge oder eine Anzahl darstellen.

So wären manche Wetzrillensteine die ersten Träger der Informationsvermittlung mit Zeichen, Mengen und Richtungsweisern. Es folgten dann eingewetzte Symbole, Zahlen und Schriftzeichen bis später zur Schrift. Als Informationsträger wären demzufolge dem Sandstein dann die Schiefertafel, das Papier, die Presse, Funk und Fernsehen bis zum Computer und dem Internet gefolgt.

2. Wetzrillen im Mittelalter

  1. Rechtshandlungen durch Wetzen
    Ein Brauch bei Rechtshandlungen, Eidesleistungen und bei dem Vermählungsakt war das Schwertwetzen. Das Schwert, das Wahrzeichen der Treue und des Rechts, war in heidnischer Zeit am Sockel der Gerichtssäulen zu wetzen, wurde dann später, als die Eheschließungen in der Kirche vorgenommen wurden, an Kirchentorpfeilern und Kirchenmauern gewetzt. Siehe Kirche in Dernbach, Kloster Hornbach, Kirche in Pirmasens und noch einige Kirchen.

  2. Waffenweihe
    Vor kriegerischen Entscheidungen wurden die Waffen gewetzt als glücksbringendes Omen, um sie zu segnen und zu schärfen und um ihnen Kräfte zu verleihen. Nach kriegerischen Taten oder Untaten Wetzen der Waffen als entsühnende und weihende Berührung.

  3. Sühnewetzen
    Verurteilte wetzten zur Buße an Sühnekreuzen, die sie aufgestellt hatten.

  4. Besitzwetzen
    Wetzen zum Zeichen der persönlichen Besitzergreifung.

3. Aberglaube

  1. Wunschwetzen
    Aus dem Erhaltungstrieb des Menschen heraus und aus dem Wunsch nach Gesundheit und Glück. Dieses Wetzen war wohl ein heidnisches Mittel zur Übelabwehr, Dämonenvertreibung oder zur zauberischen Herbeiführung eines besseren Zustandes, wie in Pestzeiten.

  2. Steinzauberwetzen
    Steinsandentnahme durch Steinschaben und Wetzen erbrachte Heilsand, Heilerde oder Kirchenstaub. Das so gewonnene Steinmehl diente als Wundermedizin oder Talismann zur Heilung von Mensch und Tier. Man wetzte an Kirchen, Kreuzen und Grabsteinen von Heiligen, vermengte das Steinpulver mit Wasser und trank dann dieses Gemisch selbst oder gab es dem kranken Vieh zu trinken. Um gewisse Leiden zu heilen, hat man dem Steinsand Fett hinzugefügt und damit kranke Körperteile eingerieben.
    Die Grabplatte der Heiligen Elisabeth war so stark zerschabt, daß sie fast ganz zerstört war.

  3. Fruchtbarkeitswetzen
    Aus dem Fortpflanzungstrieb des Menschen heraus wurde zur Förderung der Fruchtbarkeit gewetzt oder auch, um das Gegenteil, den Abgang einer nicht gewollten Leibesfrucht zu erreichen.

  4. Segenswetzen und Fluchwetzen
    Ein anderer Trieb im Menschen ist die Gunst. Man wetzte, um einem anderen Mitmenschen Gutes zu wünschen.
    Ein anderer Trieb im Menschen ist die Mißgunst, der Neid. Man hat dem Menschen gewetzt, dem man feindlich gesinnt war, damit er Schaden erleide und Unheil erfahre. Es gibt eine Redewendung „dem hab ich gewetzt", in gutem und im bösen Sinn.
    Laut Etymologischem Wörterbuch besitzen die Worte wetzen, hwazzjan, und verfluchen, hwazan, den gleichen Wortstamm.

4. Feuerwetzen

  1. Feuerweihe
    Das Feuer wird durch Reibungshitze entfacht. Durch Feuerwetzen entstanden Rillen und durch Feuerbohren Näpfchen. Die christliche Feuerweihe wurde eingeführt, um die heidnischen Frühlingsfeuer zu Ehren des Wodan und anderer Götter durch eine christliche Segnung zu ersetzen. In manchen katholischen Gemeinden wird noch heute am frühen Morgen des Gründonnerstags oder des Karsamstags auf dem Kirchhof das Oster- oder Judasfeuer nach alter Vorschrift durch Reiben von Stahl und Stein entzündet und gesegnet.

  2. Frühlingsfeuer, Sonnwendfeuer und Johannisfeuer
    Nach diesem Brauch wurden entweder Feuer an bestimmten Plätzen entfacht oder Feuerräder brennend von den Bergen hinab ins Tal gerollt. Dabei wurde der Winter weggewünscht und der Sommer herbeigewünscht. Bei Hinabrollen des brennenden „Fasenrades" an Fastnacht (Fasnetfunken, Funkensonntag) wurde der ganzen Gemarkung Fruchtbarkeit gewünscht.

5. Teufelskrallen

Wenn man etwas nicht erklären kann, bringt man es in den Bereich der übernatürlichen Mächte. Oder die Kirche verwandelte die guten Wetzrillen in böse Teufelsrillen, um die zaghaften Gläubigen vom Aberglauben wegzubringen. Vereinzelt wurden die Wetzrillen auch Kratzspuren des Todes, Kratzspuren des Teufels und Kratzspuren verdammter Seelen genannt.

Bei der Frage zur Bedeutung der Wetzrillen muß man sehr vorsichtig sein, da sie im allgemeinen noch recht ungeklärt ist, und die Wetzungen in verschiedenen Zusammenhängen, wenn auch auf kultischem Untergrund, stehen können. Wie man auch immer die Entstehung der rätselhaften Wetzrillen zu deuten versucht, es ist sicher, daß sie nicht ein Werk der Natur sind, sondern von Menschenhand geschaffen wurden, und das mit einer bestimmten Absicht und vor sehr langer Zeit. Neben der Menschheitsgeschichte geht im weitesten Sinne die Geschichte der Wetzrillen bisher fast unbeachtet und unenträtselt einher.
(aus: Eitelmann, Walter - Rittersteine im Pfälzerwald, 4.Aufl. Neustadt 1998, S.189-194)

Anmerkung:
Eitelmann erwähnt die Wetzrillen im Zusammenhang mit dem Wetzbrunnen bei St. Martin. Neben einigen unbedeutenden Rillen finden sich dort Schleifspuren, die vom Schärfen land- und forstwirtschaftlicher Geräte herrühren. Solche Wetzflächen finden sich oft on Brunnentrögen und Brückengeländern aus Sandstein, sie sehen jedoch völlig anders aus als die Wetzrillen.
zu 1. a) Diese Schleifbänke haben sich besonders in Abris (Halbhöhlen) gut erhalten. Im Gegensatz zu den bekannten Wetzrillen an Gebäudefassaden handelt es sich hier überwiegend um Wetzungen im waagrechten Fels.
Zu 1. c) Diese These betrifft nur einen kleinen Teil der Wetzrillen, insbesondere die Rillen am Rand von Schalensteinen. Hier konnte Otto Schmidt aus Neustadt in vielen Fällen nachweisen, dass ihre Lage der Richtung bestimmter Himmelsereignisse entspricht.
Zu 2. usw. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass derartige symbolische Wetzungen stattgefunden haben. Der dabei entstandene Abrieb dürfte jedoch zu unbedeutend gewesen sein, um die Wetzrillen entstehen zu lassen.
Zu 3. b) Für die Praxis der Gewinnung von Steinstaub gibt es zwar keine Belege für die Pfalz, doch haben Hellmich 1918 und Jünemann 1977 den Brauch vielerorts nachgewiesen. Offenbar war es auch üblich, von Grenzsteinen – besonders den Dreimärkern – ganze Stücke abzuschlagen, um sie zu Steinpulver zu verarbeiten. Die beim Abschlagen entstandenen Spuren lassen sich allerdings später von denen der Verwitterung nicht unterscheiden.
Zu 4. Bisher konnte kein Beweis dafür erbracht werden, dass beim Schleifen von Wetzrillen oder Näpfchen ein Feuer entfacht werden kann. Die immer wieder als Beleg genannten Oster- und Urfeuer wurden zwar mit Stein, aber auf andere Art und Weise entzündet.
Zu 5. Die sagenhafte Ausschmückung der Entstehung zeigt, dass man sich in einer Zeit, als Religion, Wissenschaft und Aberglaube eine untrennbare Einheit bildeten, eine übernatürliche Erklärung suchte, da der wahre Entstehungsgrund nicht bekannt war. Die Wetzrillen müssen demnach uralt sein – oder sie müssen ausschließlich im Geheimen angebracht worden sein.

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